Jahresthema 2020: Geschlechtsspezifische Gewalt in Textil-Lieferketten

Aktuelles
11.09.2020

Jahresthema 2020: Geschlechtsspezifische Gewalt in Textil-Lieferketten

Gender Based Violence Illustration, auf einer orange-farbenen Hand steht STOP, im Hintergrund Garnrollen

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bezeichnet Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit und betrifft vor allem Frauen und Mädchen, seltener auch Männer und Jungen. Geschlechtsspezifische Gewalt umfasst alle Gewalthandlungen, durch die Menschen physischer, emotionaler, psychologischer oder sexueller Schaden und Leid zugefügt wird. Das kann auch bedeuten, dass Ressourcen oder der Zugang zu Dienstleistungen verweigert werden. Geschlechtsspezifische Gewalt beruht auf Geschlechternormen und ungleichen Machtverhältnissen.

Geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen ist ein weit verbreitetes Problem. Schätzungen zufolge haben 35 Prozent aller Frauen weltweit bereits Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt gemacht. Von allen Beschäftigten in der globalen Textilindustrie sind rund 80 Prozent Frauen. Die Arbeitsbedingungen sind oft prekär und Gewalt gegen Frauen kommt viel zu häufig vor, wie verschiedene Studien nachweisen.

  • In einer Befragung von CARE in Textilfabriken in Kambodscha gab fast jede dritte Arbeitnehmerin an, in den letzten zwölf Monaten am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden zu sein.
  • Laut eines Surveys von Better Work waren 85 Prozent der Textilarbeiterinnen in Indonesien besorgt über sexuelle Belästigung.
  • Und in einer Erhebung der Fair Wear Foundation in Bangladesch berichteten über 60 Prozent der Textilarbeiterinnen, Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden zu sein.
ILO-Konvention 190 verabschiedet

Im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt war der 21. Juni 2019 wegweisend: Die Internationale Arbeitskonferenz verabschiedete das ILO-Übereinkommen 190 zur Beendigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Die Konvention hebt geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung besonders hervor und formuliert konkrete Anforderungen an Unternehmen.

Für Christina Stockfisch vom DGB ist das ein Meilenstein. Sie war an den Verhandlungen aktiv beteiligt und findet:

„Das ILO-Übereinkommen ist der erste internationale Standard in diesem Bereich überhaupt. Es liefert die erste weltweit gültige Definition von sexueller Belästigung und Gewalt. Und es bezieht sich nicht auf den Arbeitsplatz allein, sondern auf die Arbeitswelt generell und entwickelt dadurch einen weit größeren Schutzbereich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“

Lesen Sie hier das Interview mit Christina Stockfisch zur ILO-Konvention 190 und dem Stand der Umsetzung.

Christina Stockfisch Deutscher Gewerkschaftsbund
Unternehmen müssen im Review-Prozess zum Sektorrisiko berichten

Geschlechtsspezifische Gewalt fällt unter das Sektorrisiko Diskriminierung. Im Review-Prozess 2021 müssen Bündnismitglieder erstmals verpflichtend geschlechtsspezifische Risiken in ihrer Lieferkette analysieren, adressieren sowie darüber berichten.

Das Thema verbindlich im Review-Prozess zu setzen, ist auch eine Reaktion auf die Einsicht, dass geschlechtsspezifische Gewalt nach wie vor ein oft vernachlässigtes Thema ist. So zeigte die Auswertung der Roadmaps des Review-Prozesses 2019, dass kaum ein Unternehmen Maßnahmen gegen Frauendiskriminierung in seiner Lieferkette ergriffen hat. Möglich wären etwa die Sensibilisierung von Textilarbeiter*innen für das Problem oder die Unterstützung fabrikinterner Komitees.

Angst und fehlendes Bewusstsein hemmen die Auseinandersetzung mit dem Thema

In der Realität ist es nicht einfach, geschlechtsspezifische Gewalt in globalen Lieferketten zu erkennen und zu bearbeiten. Opfer schrecken davor zurück und trauen sich oft nicht, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Forschungs- und Projekterfahrungen zeigen, dass es dazu insbesondere drei Dinge braucht: Zeit, Vertrauen und einen sicheren Raum. Oft beziehen sich Opfer lieber abstrakt auf Belästigungserfahrungen anderer als auf ihre eigenen.

Außerdem ist Arbeitnehmer*innen oft nicht bewusst, was geschlechtsspezifische Gewalt bedeutet und umfasst. Die wenigsten wissen, dass darunter auch verbaler Missbrauch, Diskriminierung bei der Jobauswahl oder unrechtmäßige Kündigungen von schwangeren Frauen fallen.

Jahresthema im Textilbündnis

Angesichts dieser Entwicklungen und Herausforderungen hat das Textilbündnis geschlechtsspezifische Gewalt als Jahresthema 2020 gesetzt. In einer Expert*innen-Gruppe beteiligen sich ALDI Nord, ALDI Süd, Brands Fashion, CARE, DGB, FEMNET, Gerry Weber, GOTS, JBC, Mantis World, NKD, s.Oliver, Takko Fashion und Waschbär. Ziel ist, das Thema entlang der drei Säulen im Bündnis zu bearbeiten, das heißt Mitglieder im Review Prozess 2021 zu begleiten, gemeinsames Engagement zu fördern und Unterstützungsangebote und Austauschformate zu schaffen.

Bei einem ersten Online-Einführungsseminar, organisiert mit Unterstützung von FEMNET, hatten Mitglieder die Möglichkeit, sich über das Sektorrisiko Diskriminierung zu informieren. Fragen waren etwa:

  • Was ist geschlechtsspezifische Gewalt?
  • Welche internationalen Normen gelten?
  • Was sind die Herausforderungen vor Ort in Produktionsländern?

Um die Mitglieder im Review-Prozess 2021 bei der Analyse geschlechtsspezifischer Risiken in ihren Lieferketten zu unterstützen, hat das Bündnissekretariat länderspezifische Factsheets zu geschlechtsspezifischer Gewalt beispielsweise in Indien, Bangladesch und Vietnam erstellt.

Im September organisiert das Bündnissekretariat außerdem ein Webinar zum Thema „Addressing the Gender Data Gap“. Frauen werden oft von den Sorgfaltspflichten von Unternehmen übersehen, das zeigt der aktuelle Bericht der UN Working Group on the Gender Dimensions of the Guiding Principles on Business and Human Rights.

Hintergrund ist auch ein Mangel an geschlechtsspezifischen Daten. Informationen über Frauen in Liefer- und Wertschöpfungsketten sind bisher allenfalls fragmentiert und anekdotisch. Insbesondere Arbeitnehmerinnen in der tieferen Lieferkette sind häufig völlig unsichtbar. Geschlechtssensible Daten und ihre Analyse sind aber ein wichtiger Schritt, um Lücken in den Sorgfaltspflichten von Unternehmen zu schließen. Dazu möchte das Textilbündnis mit seinen Mitgliedern in die Diskussion kommen.

Bündnismitglieder teilen ihre Erfahrungen zu fabrikinternen Komitees zu geschlechtsspezifischer Gewalt

Anfang des Jahres identifizierte die Expert*innen-Gruppe zwei prioritäre Themen: Sozialaudits und fabrikinterne geschlechtsspezifische Komitees. Beim Arbeitstreffen im April 2020 berichtete Bündnismitglied Takko Fashion über seine Erfahrungen mit dem Aufbau von fabrikinternen Komitees gemeinsam mit dem unabhängigen Partner der Fair Wear Foundation in Bangladesch.

Aufgabe der Komitees ist es, Textilarbeiter*innen über geschlechtsspezifische Gewalt aufzuklären und konkrete Beschwerden fabrikintern zu managen. Akzeptanz und Mitwirkung vonseiten des Fabrikmanagements, aber auch enge und langfristige Beziehungen zu den Lieferanten sind dabei laut Takko Fashion wichtige Voraussetzungen. Herausforderungen wie hohe Mitarbeiterfluktuation, Monitoring der Komitees und die Schwierigkeit, qualifizierte Trainer*innen zu finden, kamen ebenfalls zur Sprache.

Trotz aller Schwierigkeiten zieht Iryna Makoveienko von Takko Fashion ein positives Fazit:

„Die Arbeit mit den Komitees erfordert Geduld und einen langen Atem. Aber die Ergebnisse sind positiv. Deswegen planen wir, die Arbeit mit den Komitees auf all unsere Zulieferer in Bangladesch auszuweiten.“

Leitfaden zur Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewalt in Sozialaudits

Auf Fabrikebene verwenden Marken- und Handelsunternehmen häufig Sozialaudits für das Monitoring der Arbeitsbedingungen. Daher ist es wichtig, dass geschlechtsspezifische Gewalt in Sozialaudits angemessen berücksichtigt wird. Dies ist leider oft nicht der Fall (HRW 2019). Audits in den Fabriken sowie Interviews durch männliche Auditoren sind die Norm und schaffen keinen sicheren Raum für Arbeitnehmer*innen, um offen über Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu sprechen.

Deswegen entwickelt die Expert*innengruppe im Textilbündnis einen Leitfaden, um geschlechtsspezifische Gewalt effektiv in Sozialaudits zu verankern. Mit dem Leitfaden sollen Marken- und Handelsunternehmen für die Grenzen von Sozialaudits sensibilisiert und dabei unterstützt werden, Sozialaudits geschlechtssensibel auszugestalten und diese sinnvoll in ihre Sorgfaltspflichten-Prozesse zu integrieren.

In diesen Prozess können auch Textilbündnismitglieder ihre Erfahrungen einbringen. NKD hat beispielsweise schon vor ein paar Jahren angefangen, Sozialaudits geschlechtssensibel  zu gestalten.

Mali Stelzer, NKD

Mali Stelzer von NKD erklärt: 

„Wir haben bei NKD gute Erfahrungen mit Off-Site Interviews gemacht, um geschlechtsspezifische Gewalt innerhalb der Lieferkette zu identifizieren. Sie finden an einem neutralen Ort, nach der Arbeitszeit, fernab vom Fabrikgelände statt. In dieser neutralen Atmosphäre kann ohne Furcht vor Repressalien offen über Erlebnisse am Arbeitsplatz berichtet werden. Wichtig ist außerdem, dass die Gespräche von gleichgeschlechtlichen Gesprächspartner*innen durchgeführt werden.“

COVID-19 verschärft das Problem

Seit März 2020 stellt die COVID-19-Krise Textilarbeiter*innen, Zulieferer und Marken- und Handelsunternehmen vor immense und ungekannte Herausforderungen. Die Krise hat dabei ganz konkret auch geschlechtsspezifische Auswirkungen. Denn Frauen machen den größten Teil der Erwerbsbevölkerung im Bekleidungssektor aus und sind daher überproportional von der steigenden Arbeitslosigkeit im Textilsektor betroffen.

Textilarbeiterinnen haben häufig die am schlechtesten bezahlten Jobs in Fabriken und kämpfen sowohl bei der Arbeit als auch zuhause mit gesundheitlichen Problemen, finanzieller Unsicherheit, Gewaltrisiken und einer hohen Belastung durch Pflegearbeit. Durch COVID-19 haben sich diese Risiken noch verschärft.

Bei einem Online-Seminar im Mai 2020 diskutierten Bündnismitglieder diese geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Krise auf Textilarbeiter*innen sowie Möglichkeiten des Engagements und der Abhilfe. Anstoß für die Diskussion gab der Input von CARE, in dem die Ergebnisse ihrer Rapid-Gender-Assessments aus Bangladesch, Kambodscha, Indonesien und Myanmar sowie geplante Nothilfemaßnahmen vorgestellt wurden.

In der Folge entschied sich die Unternehmensgruppe ALDI SÜD die Nothilfemaßnahmen von CARE zu unterstützen.

Kathrin Raabe findet: 

„Da Frauen von der COVID-19-Pandemie und ihren Folgen besonders hart betroffen sind, hat sich die Unternehmensgruppe ALDI SÜD dazu entschlossen, den COVID-19-Fonds von CARE zu unterstützen. Dabei konnten wir Soforthilfe leisten und Textilarbeiterinnen in Bangladesch und Myanmar durch direkte finanzielle Unterstützung, der Bereitstellung von Hygienesets sowie psychologischer Betreuung in Fällen von geschlechtsbezogener Gewalt helfen.“

Kathrin Raabe ALDI Süd
Kooperation zwischen Textilbündnis, deutscher Entwicklungszusammenarbeit und BSR

Aufbauend auf dem Online-Seminar entsteht derzeit das Kooperationsprojekt HERessentials zwischen BSR, dem Textilbündnis und der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Zentrales Anliegen des Projekts ist es, auf die erhöhten Risiken für Frauen während und nach der Krise zu reagieren. Handlungsfelder sind unter anderem Hygiene und Pandemieprävention, geschlechterbasierte Gewalt, digitale Finanzdienstleistungen und Finanzplanung, Ernährung und Familienplanung, Kommunikation am Arbeitsplatz und Stressmanagement.

Neben Trainings für Arbeiter*innen gibt es auch eine enge Zusammenarbeit mit dem Fabrikmanagement. Der Fokus liegt hier auf dem Prozess der Wiedereröffnung von Produktionsstätten nach temporären Schließungen und geschlechtssensibler Kommunikation mit Arbeiter*innen in Stresssituationen. Die Trainingsinhalte werden derzeit digitalisiert, damit die Maßnahmen trotz der Pandemie und Distanzregeln durchführbar sind.

Während das GIZ-Sektorvorhaben Multi-Akteurs-Partnerschaften Textil die Entwicklung und Digitalisierung der Maßnahmen fördert, plant das GIZ-Regionalvorhaben FABRIC die Pilotierung der Maßnahmen in Zuliefererfabriken. Daneben wird FABRIC die Einbindung lokaler Stakeholder wie beispielsweise Interessensvertretungen von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen koordinieren.

Das Textilbündnis plant, das Projekt mit einem Lern- und Erfahrungsaustausch zu begleiten und kooperiert hier eng mit FABRIC, um einen Erfahrungsaustausch nicht nur für Brands, sondern auch in der Region zu ermöglichen. Bündnismitglieder haben die Möglichkeit, Zuliefererfirmen für die Pilotierung zu nominieren. Über die Projektbegleitung können sie Zugang zu den entwickelten Tools erhalten und Lernerfahrungen gemeinsam reflektieren.

Judith Kunert, Bündnissekretariat

Wie geht es nun weitergeht, wird das nächste Jahr zeigen. Judith Kunert vom Bündnissekretariat findet:

„2020 war im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt kein gutes Jahr. Nach dem großen Meilenstein der Verabschiedung der ILO Konvention 190 in 2019, war 2020 bedingt durch die Corona-Krise von Rückschritten und Stillstand geprägt. Nichtsdestotrotz haben wir es im Textilbündnis geschafft, einige Initiativen und Unterstützungsangebote für Mitglieder auf den Weg zu bringen. Wie diese angenommen werden und wer mitmacht, wird sich 2021 zeigen.“

Bündnisinitiative Tamil Nadu

Auch unsere Bündnisinitiative im südindischen Tamil Nadu zielt besonders auf die Förderung und Aufklärung der weiblichen Arbeiterinnen. Mehr Infos finden Sie auf der Detailseite der Bündnisinitiative.

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